Zurück in die Flegeljahre

Hass, der Keller der Gefühle, feiert derzeit ein Comeback. Rechtspopulisten erringen wichtige politische Erfolge, der Umgangston im Internet wird rauer, Gewaltverbrechen gegen Minderheiten sind auf einem Höchststand. Wir hätten es wissen können, jetzt müssen wir eben neu lernen, wie wir diesem Keller entfliehen können. Ein Essay.

Charles kaufte Dosenfleisch. Das war am Freitag, 31. Juli 1966. Charles Whitman hatte wenige Wochen zuvor seinen 25. Geburtstag gefeiert. Er war ein Musteramerikaner. Er hatte die höchsten Auszeichnungen bei den Pfadfindern erhalten, war ein begabter Schüler und mauserte sich während seines 18-monatigen Dienstes beim Marine Corps zu einem außergewöhnlich guten Scharfschützen. Dieses Talent nutzte er, um in ein Förderprogramm der Armee zu kommen, das ihm ein Studium ermöglichte. Am besagten Freitag holte er aber erst einmal seine Frau von deren Sommerjob als Telefonistin ab. Das Wochenende stand vor der Tür, also trafen sie sich noch mit Freunden und hatten einen kurzweiligen Nachmittag. Am Abend tötete Charles erst seine Mutter, dann seine Frau; beide mit Messerstichen ins Herz. Am nächsten Tag fuhr er an die University of Texas in Austin, ging auf die Aussichtsplattform des University Towers – immerhin im 28. Stockwerke – und erschlug dort die Empfangsdame mit einem Gewehrkolben. Anschließend schoss er vom Dach aus 95 Minuten lang wahllos auf Passanten. Dabei tötete er weitere 14 Menschen und verletzte 32, ehe die Polizei das Dach stürmen und ihn erschießen konnte.

Bei seiner Autopsie wurde ein Tumor entdeckt, der wahrscheinlich auf die Amygdala drückte und Whitmans Zentrum für Selbstkontrolle stark beeinflusste. Zwar lassen sich die Handlungen nicht mit dem Tumor allein erklären (es gab ein gestörtes Verhältnis zum Vater, Spiel- und Trinkprobleme), doch gingen die beteiligten Ärzte davon aus, dass Whitman seine Handlungen nicht mehr voll bewusst steuern konnte. Whitman war das sogar bewusst. Er hatte sich zuvor selbst in Behandlung begeben, da er zu irrationalen Wutanfällen neigte. Den Tumor entdeckte keiner der Ärzte, die verschrieben ihm lediglich Medikamente aller Art.

Woher der Hass kommt

Was Whitman tat, könnte also – abgesehen vom Talent zum Scharfschützen – in jedem von uns stecken. Hass ist in uns. Es ist keine Eigenschaft, die eine Gesellschaft überwinden kann, die von der Evolution irgendwann wegrationalisiert wird. Hass ist in unseren Nervenbahnen verankert. Und das ist jedem Menschen bewusst.

Damit Hass entsteht, müssen drei Voraussetzungen gegeben sein. Die erste ist die Zeitkomponente. Ein Mensch muss dauerhaft verletzt werden. Was diese Verletzung sein kann, ist dabei vom Menschen abhängig. Beleidigungen, Erniedrigungen, Bestrafung… es ist sehr subjektiv. Doch ein oder zwei Tiefschläge dieser Art reichen nicht. Die Verletzungen müssen dauerhaft und über einen längeren Zeitraum passieren. So entsteht das Gefühl der Wehrlosigkeit, das ist die Basis für einen Hass Whitmanscher Dimension.

Die zweite Voraussetzung ist fehlende Bestrafung. Wird derjenige, der einen Menschen verletzt, umgehend bestraft, mag sich Antipathie aufbauen, von Hass ist dieses Gefühl aber weit entfernt. Die Vernunft fordert ein Ende der Verletzungen und eine Bestrafung des Verursachers.

Voraussetzung Nummer drei ist, dass der Gehasste dem Hassenden wichtig ist. Gleichgültigkeit als Basis für den Hass kann nicht funktionieren. Hassen kann ein Mensch nur, wem er Wichtigkeit beimisst. Selbst wenn dieses Gefühl nur einseitig ist, muss es vorhanden sein.

Diese Dreier-Kombination ist, vereinfacht gesagt, eine Negativ-Aufnahme der Liebe. Hass ist Liebe, nur spiegelverkehrt. Beide Gefühle entstehen in ähnlichen Hirnregionen, lösen aber konträre Reaktionen aus. Hass aktiviert, wenig verwunderlich, die Hirnregionen, die für Aggressionen zuständig sind. Aber eben auch die Vernunft. Da Hass eine enorm starke Emotion ist, versucht das Gehirn automatisch gegenzusteuern. Mit Verhaltensregeln, möglichen Konsequenzen und anderen Beschwichtigungstaktiken. Es sei denn, ein Tumor drückt auf diesen Teil.

Die Masse macht´s

Natürlich ist Hass kein individuelles Ereignis. Es funktioniert auch als Massenphänomen. Die Psychologie spricht von verschiebbarem oder flottierendem Hass. Der größte Unterschied zur privaten Gefühlsregung ist, dass sich der Hass nicht mehr gegen den Verursacher der Emotionen richtet, sondern gegen Sündenböcke. Um diese Erkenntnis der Psychologie zu veranschaulichen, ist der Weg zurück ins Dritte Reich völlig überflüssig. Nicht einmal der über die Grenze muss gegangen werden – nach Ungarn, in die USA, Russland oder die Türkei. Kehren wir im Jetzt und vor unserer Tür.

Eine Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung kam zu dem Schluss, dass 75 Prozent der Deutschen ihren Lebensstandard bedroht sehen und dadurch die Solidarität mit dem Schwächeren nachlässt. 90 Prozent befürchten einen sozialen Abstieg und 65 Prozent glauben, dass zu viele schwächere Gruppen vom System mitversorgt werden müssen.

Flüchtende? Nein, nein. Das war ein gewolltes Missverständnis. Die Studie stammt aus dem Jahr 2009 und widmete sich der Finanzkrise. Damals wurden Feindbilder geschaffen, die für den jetzigen Aufstieg der Rechtspopulisten enorm wichtig waren. Banker wurden zu „jüdischen Wucherern“, Politiker zur „abgekapselten Elite“. Einerseits wuchs die Gruppe der einkommensschwachen Menschen, die eher zu Antisemitismus neigen, andererseits wandten sich genau die von der bestehenden Politik ab. Heute fühlen sich – so eine Studie der Bertelsmann Stiftung – 57 Prozent aller Deutschen (unabhängig von Bildung oder Einkommen) vom Islam bedroht.

Was sich heute – nach dem Aufstieg der AfD, der Wahl Trumps und dem beschlossenen Brexit – wie eine Selbstverständlichkeit liest, haben die Autoren der Studie damals vorausgesagt: „Die Politik hat die kleinen Leute aus den Augen verloren. Sie sehen sich von ihr nicht mehr entsprechend vertreten“, so Julia Becker, Mitautorin der Studie. Und weiter: „Das Gefühl der Bedrohung, etwa durch die Finanzkrise, ist eine schlechte Basis für Integration.“

Evolution des Hasses

Sprung ins Jahr 2017 – also acht Jahre Zeit für den Hass, sich zu entwickeln. Im Jahr 2015 gab es laut 1.031 Straftaten gegen Asylbewerberheime in Deutschland. 2016 noch 921. Das sind nur die Straftaten, die sich gegen Gebäude gerichtet haben. Also Brandanschläge, eingeworfene Scheiben, Hakenkreuz-Graffiti. Das Innenministerium führt dazu eine Statistik der „Hasskriminalität“. Erfasst werden alle Delikte mit einem rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen oder religiösen Hintergrund. Das Ministerium ordnet die Fälle dann danach, ob es sich um Straftaten aus dem linken oder rechten Spektrum handelt oder ob ein Ausländer der Täter ist.

Wie ungenau diese Statistik zwangsweise sein muss – schließlich handelt es sich bei der Bewertung um eine äußerst subjektive Angelegenheit –, zeigt die Vielzahl nicht nachvollziehbarer Einzelfälle. Ende 2014 gab es in Vorra (Brandenburg) einen Brandanschlag auf eine Unterkunft für Flüchtende. Auf das Nachbargebäude sprühte der Täter ein Hakenkreuz und eine Anti-Asyl-Parole. Die Motivation für die Tat sei wirtschaftlicher Natur gewesen, erklärte die Polizei. In München beschmierte ein Täter 2015 das Auto einer türkischen Familie ebenfalls mit einem Hakenkreuz; die Polizei erkannte keinen politischen Hintergrund. 2017 brachen 13 Kinder und Jugendliche in das Hotel eines syrischen Geschäftsmannes in Mönchengladbach ein und beschmierten die Wände ebenfalls mit Hakenkreuzen. Tatmotiv laut Polizei: „Unsinn“.

Gespalten

Die Gesellschaft scheint in ihre Flegeljahre zurückzudriften. Also jene Zeitspanne des Lebens, in der Hormone die Kontrolle über Jugendliche übernehmen. Es kommt zu einer stark erhöhten Aggression; grundsätzlich alle Gefühle werden überdimensional erlebt. Doch die Pubertät ist von der Natur so gewollt, da müssen wir durch, für irgendwas wird sie schon gut sein.

Auch andere Einflüsse steigern die Aggression. Demenz und Alzheimer beispielsweise. Steroide und Anabolika. Selbst das Fernsehen. Dazu kommt ein psychologisches Phänomen: Menschen fühlen sich besser, wenn sie auf andere herabblicken können. Auf diesem abwärts gerichteten sozialen Vergleich basiert unser ganzes Wirtschaftssystem. Mein Auto ist teurer, mein Haus größer, mein Urlaubsziel exotischer. Das Praktische daran ist, dass dieser soziale Vergleich immer funktioniert – unabhängig von der Einkommensklasse. Natürlich hat meine Hose ein Loch, aber das Loch in deiner Hose ist größer. Diese Woche kann ich mir kein Fleisch leisten, aber du isst schon seit einem Monat nur Nudeln mit Ketchup.

Trifft dieser Abwärtsvergleich auf das Massenphänomen des flottierenden Hasses, wird die eigene Überlegenheit dadurch gerechtfertigt, dass man einer vermeintlich besseren Gruppe zugehört: Ich habe keinen Job, aber wenigstens bin ich kein Jude. Ich habe keinen Schulabschluss, aber diese Frau trägt ein Kopftuch. Ich schlage meine Frau, aber wenigstens bin ich weiß. So weit unten kann ein Mensch in der Gesellschaft gar nicht stehen, dass er nicht noch eine Randgruppe findet, die er verachten kann.

Dieser Hass kann kollektiv überwunden werden. Das Dritte Reich gibt es nicht mehr, Frauen dürfen wählen und Homosexuelle heiraten. Das sind alles Beispiele für einen überwundenen abwärts gerichteten sozialen Vergleich.

Davon sind wir im Moment aber weit entfernt. Denn nicht nur die vermeintlichen Bösen geben sich diesem Effekt hin, auch die selbsternannten Retter der Gesellschaft. Donald Trump, Marine Le Pen und Alexander Gauland wären keine Identifikationsfiguren für die „Vergessenen“, wären sie nicht derart angefeindet worden. Die drei Populisten mögen genauso reich, elitär und abgekapselt sein wie alle jene, die von ihren Wählern so verachtet werden, aber dadurch, dass über diese Populisten Häme und Hass gekübelt wird, werden sie zu Gleichgesinnten. Sie haben etwas gemeinsam. Natürlich kann man die Politik von Donald Trump kritisieren, aber doch nicht Kleid, Schönheitsoperationen oder Dialekt seiner Ehefrau. Wer Attila Hildmann als dumm bezeichnet, weil er einen Rechtschreibfehler im Telegram-Post hat, der bezeichnet auch seine Anhänger als dumm. Und das sind jene Menschen, denen jahrelang vorgeworfen wurde, dass sie nicht wählen gehen würden. Doch genau das haben sie jetzt getan. Motiviert dadurch, dass auf sie herabgeblickt wird. Motiviert dadurch, dass ihnen jemand eine Randgruppe gegeben hat, auf die sie runterblicken können.

Reparaturarbeiten

Brandbeschleuniger dieses Vorgangs ist das Internet. Hier bekommt jede Meinung ihren Platz, alle Inhalte stehen gleichberechtigt nebeneinander. Die Bundestagswahlen neben dem neuesten Katzenvideo, Hasskommentare unter den Statistiken zu Flüchtenden und ein Superbowl-Werbespot eingebettet in einen Artikel zur Wirtschaftspolitik.

Die Feuilletons sehen darin eine Bedrohung unserer Kultur. Wieder einmal. Langweilig. Das passierte bereits bei der Einführung des Privatfernsehens, beim Aufkommen des Heimcomputers und mit der Verbreitung des Smartphones. Unsere Kultur ist schon so oft untergegangen, dass man sich fragt, was sie eigentlich immer wieder hat hochkommen lassen. Sokrates beschwerte sich einst, dass die Schrift die Debatten und Gehirne verkümmern lassen würde. Nietzsche darüber, dass die Schreibmaschine seinen Schreibstil beeinflussen würde.

Das Internet hat für Hassende den Vorteil, dass sie alleine hassen können. Sie brauchen keine Gruppe. Das spart Zeit und macht das Hassen leicht. Es gibt keine aufgezwungene Auseinandersetzung mit Gegenmeinungen. Bei Demonstrationen gibt es Gegendemonstranten, Redner und Medien. Wer gegen ein Asylbewerberheim demonstriert, der steht plötzlich neben stramm-rechten Glatzköpfen und kommt vielleicht ins Grübeln, ob das die Menschen sind, mit denen er sich wirklich identifizieren will. Im heimischen Wohnzimmer nicht.

Nur ein einziger Widerspruch muss überwunden werden: Komplexität. Jeder Mensch ist einzigartig, hat Geschichten zu erzählen und könnte einen Psychoanalytiker mehrere Jahre beschäftigen. Das trifft aber nur auf den Hassenden zu. Den Gehassten kann der Internet-Kommentator mit einem einzigen Blick auf ein Foto von dessen Eltern komplett durchschauen. Narziss lässt grüßen.

Im Internet macht Hass süchtig. Die Hassenden sind auf der Suche nach neuen Gegenspielern. Sie durchforsten die sozialen Medien bewusst nach Menschen und Medien, die einen anderen Standpunkt haben. Für das Gehirn eines Hassenden ist es eine Belohnung, hassen zu dürfen. Also begibt er sich auf die Jagd nach einem Hassobjekt.

Klar kommt einem das bekannt vor. Es ist klassisches Suchtverhalten. Der Alkoholiker auf der Jagd nach einem belohnenden Schnaps. Und wie jede Sucht kann auch die nach Hass überwunden werden. Allerdings nicht mit Verständnis. Ein Alkoholiker legt die Flasche nicht weg, wenn ihm jemand sagt, dass er Verständnis für diese Situation hat. Er legt die Flasche weg, wenn er merkt, dass er einen Fehler gemacht hat. Diese Erkenntnis wird kommen. Die wirtschaftlichen Probleme der Briten durch den Brexit. Das Versagen der AfD-Politiker in quasi allen Landtagen. Die Unzulänglichkeiten der Trump-Regierung. Die Erkenntnis wird kommen und wir werden uns weiterentwickeln. Wieder einmal.

Eine Antwort zu „Zurück in die Flegeljahre”.

  1. […] Zurück in die Flegeljahre – Woran es liegt, dass der Populismus zurückkommt. Ein Essay. […]

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