Orgasmus ohne Sauerei

Keine Menschengruppe kann sich zum Urmeter für die Gesellschaft aufschwingen. Niemand ist in der Position die Norm zu bestimmen. Trotzdem gibt es Randgruppen. Eine Spurensuche.

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Das hat sich gut angefühlt. Die Nervenzellen in der Mitte Ihres Gehirns haben für die kurze Zeit, in der Sie den ersten Absatz gelesen haben, die Dopamin-Produktion angeworfen. Das neurobiologische Fließband lief für kurze Zeit auf Hochtouren und körpereigene Opiate und Oxytocin enterten Ihre Gefühlswelt. Denn auf Lob und Anerkennung reagiert das Gehirn genauso wie auf eine befriedigte Drogensucht oder einen Orgasmus. Leidglich die Dosierung ist eine andere. Doch Nervenbahnen sind keine Einbahnstraßen und so funktioniert das Experiment auch in die andere Richtung:

Wenn Sie bis hierher gelesen haben, sind Sie ein Besserwisser. Heutzutage liest keiner mehr lange Geschichten und die Tatsache, dass Sie es tun, macht Sie zu einem Außenseiter. Sie haben, während Sie das hier lesen, Zeit und Spaß mit ihren Freunden verpasst.

Sie sind jetzt ausgegrenzt. Ihre Schmerzgrenze ist gesunken und Sie reagieren empfindlicher auf Reize jeder Art. Ihr eigener Körper hat in einem Akt des Selbsthasses außerdem Pro-inflammatorische Zytokine ins Blut geschossen. Das sind Botenstoffe die entzündungsfördernd wirken. Wenn Sie in dieser Sekunde etwas gegen Ihre eigene soziale Ausgrenzung tun wollen, dann schlucken Sie eine Aspirin oder Paracetamol. Denn der psychologische und der körperliche Schmerz teilen sich die selben Nervenbahnen. Ihr Gehirn kennt den Unterschied nicht.

Schmerz der Ausgrenzung

Ihr Körper empfindet Ablehnung, Ausgrenzung und den Verlust einer sozialen Gruppe als Bedrohung. Das hat seine Gründe. Im Laufe der Evolution sind unsere Vorfahren dazu übergegangen in immer größeren Gruppen zu leben. Um die Arbeit aufzuteilen und endlich Tiere erlegen zu können, die sonst immer einzelne Jäger zerstampft und gefressen haben.

Trotz oder gerade wegen dem elementaren Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat jede Gesellschaft, jedes Land und jede Epoche seine eigenen Aussätzigen kreiert. Frei nach dem Motto: Ohne Ausgrenzung gibt es auch keine Kerngruppe. So war in der Antike nur der Teil der Gesellschaft, der auch einen Nutzen für die Gesellschaft hatte. Wer von Nutzen war und wer nicht, definierten Philosophen, die auch gleich ihr eigenes moralisches Fundament bestimmen konnten. Das war praktisch.

Indien erfand das Kastensystem und damit die Unberührbaren. Vergleichbar mit den Buraku in Japan oder den Roma in Europa oder Obdachlose in praktisch jeder Großstadt der Welt. Dazu kommen ehemalige Sträflinge, Drogensüchtige, psychisch Kranke, körperlich Beeinträchtige. Mit biblischer Endgültigkeit kreiert die Menschheit, seit sie sich zu Gesellschaften zusammengeschlossen hat, Minderheiten.

Im Lauf der Jahrtausende hat sich der Mensch dabei eine sehr einfache Denkweise angewöhnt. Das Schubladendenken. Es ist die Automatisierung der Minderheiten-Bildung. Ein Blick reicht, um einen Menschen einzuordnen. Per Angst oder Mitleid, Ehrfurcht oder Abscheu signalisiert es uns, was zu tun und zu denken ist. Es ist die Sparversion eines Denkprozesses.

Evolution brauchte Vorurteile

Während der Evolution war das von Vorteil. Lieber hinter zehn Büschen einen Bären vermuten und am Leben bleiben, als neugierig durch den Wald torkeln und gefressen werden. Heute führen diese Denkmuster zu einer Reihe gefährlicher Irrungen. Joshua Correll (University of Chicago) und Bernadette Park (Colorado University), beides Sozialpsychologen, haben auf gruselige Art gezeigt, welche Konsequenzen diese Denkweise haben kann. 

Sie haben ein Computerspiel entwickelt. Die Spieler hatten als Ziel die gefährlichen Personen zu erschießen und die harmlosen Passanten am Leben zu lassen. Auf dem Bildschirm tauchten schwarze und weiße Männer auf, die entweder ein Handy oder eine Pistole trugen. Unbewaffnete Schwarze wurden häufiger erschossen als unbewaffnete Weiße. Auch von anderen ethnischen Minderheiten, auch von Schwarzen.

Gleichzeitig beruhigend als auch beängstigend ist, dass dies Reaktionen sind, über die der Mensch keine Kontrolle hat. Es sind keine bewussten Entscheidungen. Diese Reflexe entstehen  im Lauf des Lebens – durch die Filme die man sieht, die Geschichten, die man erzählt bekommt und die Erziehung, die man genießt. Durch diese Prägung lösen Vorurteile bestimmte Gefühle aus. Auch für sie kann der Mensch nicht verantwortlich gemacht werden.

Zum eigentlichen Problem werden Vorurteile erst, wenn diese Gefühle vom Menschen nicht mehr hinterfragt, sondern akzeptiert oder gar zu Fakten erhoben werden. Befragen Sie dazu den Psychologen Claude Steele (Stanford University). Er ließ Klassen Mathematikaufgaben lösen. Wurde den Frauen vorher erklärt, dass sie aufgrund ihres Geschlechts weniger begabt für Mathematik seien, schnitten die Frauen auch tatsächlich schlechter ab. Klischees können eigene Fakten kreieren, die das Leben der Betroffenen radikal beeinflussen können.

Amerikanische Unternehmen sind mehr an Bewerbern interessiert, die Namen tragen wie Bill oder Greg. Kommt die gleiche Bewerbung mit dem gleichen Notschnitt von einem Jamal oder einer Lakisha sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Vorstellungsgesprächs rapide, wie Marianne Bertrand (Ökonomin an der University of Chicago) herausfand.

Schubladen im Gehirn

Erstaunlicherweise ist das menschliche Gehirn resistent gegenüber Beweisen. Maya Machunsky (Universität Jena) fand heraus, dass Männer, die zu wissen glauben, dass Frauen schlechter in Mathematik sind, die mit einer Frau konfrontiert werden, die mathematisch hochbegabt ist, sofort eine neue Schublade für diese Frau kreieren. Sie ist plötzlich ein „Mannweib“ und damit kein Beweis mehr für die mathematische Begabung von Frauen.

Inklusionsmaßnahmen und Integrationsarbeit sind ein wichtiger Schritt, um über Vorurteile hinweg zu kommen. Sie können aber nur das Fundament sein. Um das Schubladendenken zu durchbrechen muss eine neue Denkweise, ein neuer philosophischer Ansatz, eine revolutionäre Betrachtung der Gesellschaft etabliert werden.

Ein Ansatz dazu ist das Studienfeld der „Critical Whiteness“ oder des „Weißsein“. Dabei soll die Betrachtungsweise umgedreht werden. Es soll nicht mehr geklärt werden, warum bestimmte Rassen diskriminiert werden, sondern wie es zur Bildung der Normen kam, die in der Gesellschaft als normal gelten. Es geht darum, dass sich weiße, heterosexuelle Männer nicht mehr selbstverständlich als Maß aller Dinge begreifen, sondern sich mit ihren Privilegien auseinandersetzen – oder sie überhaupt erst einmal als solche begreifen.

Leider leidet dieses Studienfeld daran, dass der Begriff von unterschiedlichen Aktivisten und Gruppen anders interpretiert, verwendet und geradezu pervertiert wird. Einen negativen Höhepunkt im deutschsprachigen Raum bildete das No-Border-Camp 2012 in Köln. Bei den Diskussionsrunden durften Weiße jederzeit von Nichtweißen ohne Begründung unterbrochen werden. Andersrum war das nicht erlaubt. Sprecher und Sprecherinnen mussten zuerst Geschlecht, sexuelle Orientierung und Herkunft offen legen, bevor er oder sie etwas sagen durfte. Es ging nicht mehr darum, Menschen, aus Schubladen zu befreien, Klassen zu durchbrechen und gleiches Recht für alle zu erreichen, sondern darum, vermeintlich privilegierten Menschen zu schaden. Obwohl das Ziel aller Teilnehmer am No-Border-Camp das gleiche war, war an ein schöpferisches Miteinander nicht mehr zu denken.

Wenn Studenten Verbote fordern

Ein ähnliches Problem eskalierte an amerikanischen Universitäten. Studenten, die sich einer Randgruppe zugehörig fühlen, radikalisieren ihr Beleidigt-sein gegenüber den Professoren. Erika Christakis, eine Kinderpsychologin, die an der Universität in Yale unterrichtete, musste nach Studentenprotesten zurücktreten. Auslöser war eine Halloween-Party. Christakis warnte in ihrer Rolle als zuständige Betreuerin eines der Wohnheime davor, „kulturell aneignende“ Kostüme (Indianerschmuck, Sombreros…) zu tragen. Das Problem war, dass sie sich weigerte eine Liste zu veröffentlichen, welche Kostüme verboten seien. Auf diese Forderung antwortete sie: „Wessen Aufgabe ist es, die Kostümwahl von jungen Leuten zu kontrollieren? Auf jeden Fall nicht meine, so viel weiß ich.“

Die darauf folgenden Proteste basierten auf der Logik, dass eine Universität ein „Safe Space“ sein müsse. Erlasse Christakis keine Verbote, würde sie sich nicht ausreichend für diese Sicherheit einsetzen. Diese kuriose Geschichte und einige mehr lassen sich unter dem Titel „Die Debatten-Polizei“ auf zeit.de nachlesen. Der Autor, ein Universitäts-Professor, wollte aus Angst vor seinen Studenten anonym bleiben.

Diese Perversion des Gedankens, darf die eigentliche Theorie nicht unterminieren. Es geht darum, Gedankenmuster aufzubrechen und die Gesellschaft in einem neuen Licht zu betrachten. Es geht darum, unsere Gesellschaft als das zu begreifen was sie ist, nämlich eine Vielzahl einzelner Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, Meinungen und Hintergründen.

Zugehörigkeit schenken

Es gibt sie nicht, die „Flüchtlingswelle“. Eine Welle ist eine einheitliche Naturgewalt, die auf Naturgesetzen basiert. Jeder Flüchtende aber hat seine eigene Geschichte, seine eigene Motivation, sein eigenes Drama, das er überwinden muss. Genauso wenig gibt es „die Türken“, „die Juden“, „die Deutschen“ oder „die Schwulen“.

Genau genommen gehört jeder Mensch einer Randgruppe an. Die Faktoren müssen nur weit genug eingeschränkt sein. Der heterosexuelle, weiße Mann, der Auto fährt, eine unbefristete Arbeitsstelle hat, glücklich verheiratet ist und zwei Kinder hat existiert kaum noch. Und ist schon gar nicht die normenstiftende Mehrheit. Wahrscheinlich war er von Anfang an kaum mehr als die Plastik-Phantasie aus der Nimm-Zwei-Werbung.

Zugehörigkeit zu schenken bedeutet nicht Privilegien oder Reichtum aufzugeben, sondern sie auch anderen zugänglich zu machen. Wer Menschen inkludiert, tut ihnen etwas Gutes. Ein Drogenkick ohne negative Nebenwirkungen, ein Orgasmus ohne Sauerei.

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